Wenn das Geschwafel von esoterischen Dogmatikern um sich greift

Der folgende Text ist eine Auseinandersetzung mit den Texten „Wenn die Entleerung von Begriffen um sich greift“ und dem Bericht „Über ein antimilitaristisches Treffen in Prag im Mai 2024, die Action Week“ von der Soligruppe für Gefangene beziehungsweise panopticon, die – ihren Publikationen nach – mit der ebenfalls fragwürdigen „anarchistischen Buchmesse Kreuzberg“ in Verbindung stehen. Im Beitrag werden weniger die Positionen der Gruppe kritisiert, sondern deren fragwürdige Denkweise beleuchtet.

So kompliziert die Realität ist, so leicht wollen es sich die Soligruppe für Gefangene und ähnlich eingestellte Anarchist*innen machen, wenn sie das Agieren ihrer Genoss*innen innerhalb einer kriegerischen Situation pauschal ablehnen, anstatt sich auf deren Sichtweise einzulassen. Die Bezeichnung „Nato-Anarchisten“ stellt tatsächlich eine bloße Projektion dar. Zurecht wären Militarismus, eine verkürzte Herrschaftskritik und die Unterstützung einer bestimmten nationalstaatlichen Seite aus anarchistischer Sicht grundlegend zu kritisieren. Viele der ukrainischen und anderen osteuropäischen Genoss*innen und denjenigen, welche ihre Positionen unterstützen, setzen sich ernsthaft mit ihren Sichtweisen auseinandersetzen und durchdenken die Komplexität der Situation. Darin sollten sie ernst genommen werden, wenn sie in verschiedenen Texte und Gesprächen deutlich gemacht haben, dass ihnen die Gefahren der Auseinandersetzung durchaus bewusst sind. Immerhin lassen sie sich gezielt auf diese Auseinandersetzungen ein, um zu handeln
statt mit nichtssagenden Worthülsen um sich zu werfen.

Trotz – beziehungsweise gerade – wegen ihrer krampfhaft vehementen Behauptungen, sich „gegen jeden Krieg“ etc. zu stellen, macht sich die Soligruppe für Gefangene und ähnlich argumentierende Gruppen letztendlich mit der Position Russlands gemein. Ihre phrasenhaften Bekenntnisse, wie sie offenbar in diesen Kreisen gepflegt werden, gehen völlig an einer realistischen Einschätzung und Bewertung der geopolitischen Konstellation vorbei. Dieser Widerspruch wird damit gekittet, dass sich die von der Soligruppe und Konsorten verwendete Sprache in ihrem maximalistischen und romantisch-verschwurbelten Idealforderungen komplett verstrickt. Und es soll dann halt „das Kapital“ als ominöse dunkle Macht sein, gegen welche man sich pauschal richtet, ohne einen Begriff davon zu haben…

So ist entspricht auch das Absprechen des „anarchistisch-seins“ von ihnen unbequemen Positionen genau dem Modus von Sektierern. Damit werden kontroverse Auseinandersetzungen umgangen, deren Beteilige verständlicherweise hochgradig emotional argumentieren. – Nur, dass die einen gezwungen sind, sich mit der Invasion Russland in der Ukraine auseinanderzusetzen, während die anderen trotz ihres verwegen anmutenden, kompromisslosen Denkens, sich in ihrem Szene-Ghetto Kreuzberg und ein paar anderen Orten bewegen und darin vermeintlich reine Lehren als reinste Spießerkultur zelebrieren.

Auf ein Kernargument gehen sie überdies in ihrer aufgeblasenen Arroganz außerdem nie ein: dass es verschiedene Gesellschaftssysteme und Herrschaftsordnungen und damit graduelle Unterschiede zwischen diesen gibt.
Bekannte anarchistische Denker*innen wie Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin, Errico Malatesta, Émile Pouget, Emma Goldman und viele andere, waren sich dessen bewusst, dass soziale Rechte und politische Freiheiten, den herrschenden Klassen in langen Kämpfe abgerungen worden waren. Mit diesen Errungenschaften wird die bestehende Herrschaftsordnung abgestützt, indem sie Vermittlung und Abmilderung der eigentlich antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen. Demokratische Rechte, Minderheitenschutz, Versammlungs-, Presse-, Meinungsfreiheit, Vereinigungsrecht, rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit, den Schutz der Privatsphäre dienen selbstverständlich zum Nachweis dessen, dass diese Gesellschaftsform homogenen Autokratien überlegen ist. Aus anarchistischer Sicht ist sie das auch, denn eben jene Rechte und Freiheiten bilden erst die Voraussetzungen für weitere Kämpfe um Emanzipation. Deren Fluchtpunkt ist Anarchie, ein Prozess, in welchem alle Beteiligten, sich mit ihren jeweiligen Bedürfnissen und Fähigkeiten beteiligten können; in welchem das Privateigentum zu Gemeineigentum vergesellschaftet und kollektiv verwaltet wird; der Nationalstaat durch eine Föderation von autonomen Kommunen überwunden wird; in der Menschen sich gleich, solidarisch und frei zusammenschließen können.

Im Krieg in der Ukraine gibt es für Anarchist*innen, wie in allen Kriegen, nichts zu gewinnen. Der Krieg ist trotzdem da, weil die bestimmende Fraktion der herrschenden Klassen Russlands ihn zur Ausweitung des eigenen Nationalstaats wollte und brauchte. Das politische System des ukrainischen Nationalstaates war vor diesem Krieg seit 2014/2022 und nach ihm sicherlich keine Ausgangsbasis für emanzipatorische Kämpfe in einem anarchistischen Sinne. – Dies hat meines Wissens nach auch niemand jemals behauptet.
Der russische Imperialismus ist ein Spiegelbild des europäisch-US-amerikanischen Imperialismus und richtet sich daher gegen jenen als vermeintlicher Verkörperung des „Liberalismus“. Die sogenannten „westlichen“ Nationalstaaten haben sicherlich geopolitische und wirtschaftliche Interessen im Krieg in der Ukraine. – Was sollte man auch anderes erwarten?

Emanzipation ist immer ein Prozess. Trotz allem Engagement von einigen Menschen und trotz all ihrer Sehnsucht danach, dass Herrschaft endlich grundlegend überwunden wird, können wir diesen Prozess zwar auf die eine oder andere Weise beeinflussen. Letztendlich entzieht er sich aber unserer Kontrolle, weil wir wenige sind und weil wir diesen Prozess auch nicht kontrollieren, sondern ihn nur anschieben und in die Richtung lenken wollen, welche wir aus guten Gründen für gut halten. Somit müssen wir unsere Kämpfe schließlich an der widersprüchlichen Realität orientieren und in graduellen Fortschritten und Rückschritten denken, die freilich auch unterschiedlich bewertet werden mögen. Hierbei geht es nicht vor allem um die Quantität („Wie viel wir tun“, ob wir „genug“ tun etc.), sondern um die Qualität – wie, warum und mit welcher Absicht wir etwas tun.

Das bedeutet aber, die selbstgestrickten Illusionen hinter uns zu lassen, welche sich die Maulhelden der Soligruppe für Gefangene offenbar so gerne basteln und mal klarzukommen: Das Putin-Regime in Russland kann mit gutem Grund als faschistisch bezeichnet werden. Der Krieg war eine willkommene Möglichkeit, die Opposition und interne Kritiker vollends mundtot zu machen, ins Exil zu treiben, sie zu inhaftieren und zu ermorden. Selbstverständlich gilt es mit allen Russ*innen solidarisch zu sein, die sich dieser widerwärtigen Autokratie widersetzen. Gleiches ließe sich für die Türkei sagen. Die für den Krieg, als auch für das Regime erforderliche, nationalistische Einheit wurde über zwei Jahrzehnte mittels der Propaganda gegen den „verkommenen, westlich-liberalen Lebensstil“ geschürt. Dabei sind die Sprache des Putin-Regimes, wie auch ihre Methoden und Absichten die gleichen, wie sie neofaschistische Gruppen und Parteien in anderen Ländern verwenden. – Man braucht hier nicht um den heißen Brei herumreden: Es handelt sich um esoterische und wahnhafte Denkmuster, die mit der Konstruktion von angeblich klaren Feindbilder, der Ausgrenzung von Minderheiten, der Entwertung individueller Freiheit arbeiten. Gleichzeitig wird mit ihnen die maskulinistische Wahnvorstellung eines rassisch definierten Übermenschen angerufen. – Wer dies nachvollziehen will, kann sich mit der Theorie des Neofaschisten und Chefideologien Alexander Dugin beschäftigen. Dieser adaptierte das neofaschistische Denken, insbesondere aus Deutschland und Frankreich, um damit einen eurasischen Neofaschismus zu generieren – welcher daher von den meisten extrem rechten Kräften gefeiert wird.

Geht es darum, dass Anarchist*innen sich den Kriegen zwischen Nationalstaaten entziehen, sich der Kriegspropaganda und Kriegslogik entsagen, diese grundlegend ablehnen und dazu ihre Ursache verstehen? Wenn ja, sollte die Soligruppe für Gefangene zu Abwechslung einmal wirklich denken statt seitenweise leeren, um sich kreisenden und in sich abgeschlossenen Gedankenwust zu produzieren. Oder besser noch, sie sollten sich zur Abwechslung einmal in ihre ukrainischen und anderen Genoss*innen hineinversetzen, die sich in reale Auseinandersetzung begeben, anstatt in ihren idealistischen Traumvorstellungen hängen zu bleiben. Einen wichtigen Punkt sprechen sie dahingehend an, dass Arme, teilweise Gefangene und Migranten insbesondere von der russischen Armee rekrutiert und auf dem Schlachtfeld rücksichtslos verheizt werden. Menschenleben zählen in diesem Regime rein gar nichts mehr. Gerade dahingehend gibt es einen grundlegenden Unterschied zur ukrainischen Armee und „westlichen“ Strategie – welche es deswegen nicht zu rechtfertigen und zu loben gilt. Für das Gemetzel verantwortlich ist aber das Expansionsstreben des russischen Regimes.

In einem sich den „westlichen“ Staaten nur schrittweise annähernden Gesellschaftssystem wie in der Ukraine sahen viele Menschen tatsächlich eine Möglichkeit, ihre Lebenssituationen zu verbessern, aber auch freier, gleicher, solidarischer zu leben. Besser dies, als das homogenisierte und von Repression und Propaganda völlig zerrüttete Gesellschaftssystem, dass das Putin-Regime aufgebaut hat; besser dies, als die Fremdherrschaft jenes autokratischen Systems über ein Land, dem sich viele ukrainischen Menschen doch sehr verbunden fühlten, wie die überraschende Wehrhaftigkeit zeigte, die von vielen Bewohner*innen der Ukraine getragen wurde, ohne, dass diese ihrerseits alle bloß Nationalisten und Kriegstreiber wären. Und natürlich haben die proletarisierten Klassen keine Vaterländer… Ebenso klar ist, dass es die Militarisierung der Gesellschaft, die Aufrüstung und der Rüstungsexport hierzulande nicht zu ignorieren, sondern zu sabotieren gilt. Waffen sind keine neutralen Werkzeuge, sondern solche, mit denen Tod und Zerstörung produziert wird. Und dennoch macht es einen Unterschied, wer über sie verfügt. Der von der Soligruppe kritisierte Aufruf zur Bewaffnung der Bevölkerung (1. Mai-Demo in Dresden 2023) ist im Vergleich zu Ausrüstung marodierender Söldnergruppen insofern gar nicht so falsch gedacht.

Insofern stellt sich für Anarchist*innen die Systemfrage – wenngleich unter denkbar schlechten Umständen und Bedingungen. Diese waren ihnen historisch allerdings in den seltensten Fällen zugeneigt. Die Soligruppe für Gefangene ist nicht hauptsächlich wegen ihrer „Position“ zum russischen Invasionskrieg in der Ukraine zu kritisieren – schließlich hat sie keine, welche man mit einem Blick auf die Realität ernsthaft diskutieren könnte. Sie ist wegen ihrer Überheblichkeit, ihrem Sektierertum und ihrer Ignoranz zu kritisieren, welche letztendlich dem Geschwafel von esoterischen Dogmatikern gleichkommt. Die aggressive Behauptung, selbst auf einer moralisch absolut überlegenen Position zu stehen, entspricht einer Art autoritärem Führungsanspruch der anarchistischen Bestrebungen zuwider sein sollte.

Wenn sie sich die Frage stellen würden, wie sie sich eine erstrebenswerte Gesellschaftsform vorstellen, könnten sie ihren dogmatischen Argumentationsstil nicht durchhalten. Bei diesem wird auf esoterische Weise bewusst im Unklaren gehalten, was ihrer Ansicht nach Anarchie sein soll, worauf hin der Anarchismus eigentlich abzielt. Sie werfen ihren Gegnern einen „emotionalen“ Argumentationsstil vor, doch ihre eigenen Grundannahmen sind nichts weiter als gefühlte Wahrheiten. Das einzige, was man in diesem Sektenwesen als Zielvorstellung mutmaßen kann, ist eine vage Vorstellung von totaler Befreiung – das heißt die Konstruktion einer fiktiven „befreiten Gesellschaft“ als Bild einer Endzeit-Versöhnung. Um an diesem Maximalideal festzuhalten, werden dann vermeintlich radikale Phrasen gedroschen, mit denen man sich realen Auseinandersetzungen entziehen will. Anarchismus sollte jedoch keine Pseudoreligion sein, sondern eine Methode, um Menschen zu organisieren, selbstbestimmte Lebensformen zu ermöglichen und ihr Handeln an bestimmten Maßstäben zu orientieren. Einer dieser Maßstäbe ist der Antimilitarismus. Wie dieser jedoch umgesetzt werden kann, ist eine Frage, die weiterhin umstritten sein muss.

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